Antisemit*innen überall – „Querdenken“ revisited

„Querdenken 441“ Symbolbild // Foto: Nutshell Fotografie

Seit nunmehr über einem Jahr haben wir uns mit verschwörungsideologischen Agitator*innen und dem deutschen autoritären Mob aus Reichsbürger*innen, Hippies, Esoteriker*innen, Neonazis, Wutbürger*innen und anderen Antisemit*innen herumzuschlagen. In der Zeit hat sich die Szene rasant radikalisiert und ihr Mobilisierungspotential auch durch den von Anfang an stattgefundenen Schulterschluss mit Rechten ausgebaut. Nachdem die Beteiligung stagniert und die letzten Großveranstaltungen aus „Querdenken“-Kontexten ein einziges Desaster waren, haben viele die Hoffnung, dass es mit „Querdenken“ zuende geht. Es ist also höchste Zeit, einen aktualisierten Blick auf die Ideologie der Verschwörungsbewegung auch in Oldenburg zu werfen, um Vermutungen darüber anzustellen, wie anschlussfähig die verschwörungsideologische Mobilisierung in Zukunft sein wird.
Da sich die Verschwörungsgläubigen in Oldenburg besonders bürgerlich und gemäßigt zu präsentieren versuchen, lohnt es sich, ihren weltanschaulichen Konsens näher unter die Lupe zu nehmen.


„Querdenken“ als bürgerliche Freiheitsbewegung

Ein Gründungsmythos vom „Querdenken e.v.“ ist die Erzählung der neuen Freiheits- und Friedensbewegung. Was tatsächlich vorliegt, lässt sich allenfalls als antisemitische Sekte bezeichnen. Auffällig ist dabei der diffuse, völlig unkonkrete und falsche Faschismusbegriff, der universell und NS-relativierend gegen die imaginierten Feindbilder angewandt wird und so selbst zu einer antisemitischen Zuschreibung missbraucht wird. Auf einmal sind es ausgerechnet die als Juden*Jüdinnen identifizierten, die den „neuen Faschismus“ in Form der ausgedachten „Corona-Diktatur“ steuern würden.
Klassisch antisemitische und antikommunistische Motive verdichten sich dabei aktuell in der „Great Reset“-Erzählung, die das Corona-Virus als Deckmantel für die heimliche Einführung eines Weltsozialismus verklärt. Aber auch der Q-Anon-Mythos, der sich vor Allem an antisemitischen Ritualmordlegenden und Satanismuserzählungen bedient, ist nach wie vor enorm anschlussfähig.

Gegen all dies, insbesondere aber gegen das verordnete Masketragen, Testen, Impfen und Social Distancing will sich „Querdenken“ nun also als bürgerliche Freiheitsbewegung verstanden wissen, die nichts weiter als die Wiederherstellung aller Grundrechte fordere. De facto gehen die vermittelten Inhalte auf Demos und Kundgebungen weit darüber hinaus.
So auch in Oldenburg. Hier scheinen sich die selbsternannten „Querdenker*innen“ allerdings deutlich weniger widerständlerisch als in vielen anderen Städten inszenieren zu wollen. Das gelingt ihnen jedoch oft genug nicht. „Wir fürs Grundgesetz“ und „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ klingt anders als Ansprachen von Olaf Kastner zu psychologischer Kriegsführung oder Anke Wolffs flammend antisemitischer Rede über „unstillbar gierige und kranke Eliten“.
Auch „Querdenken 441“ scheint zu merken, dass ihre soziale Blase von sich radikalisierenden Verschwörungsgläubigen allmählig erschöpft wird. Zusehends nimmt das Mobilisierungspotential ab oder stagniert, was sich nicht zuletzt am Pfingstwochenende 2021 in Berlin bewies.
Sich als bürgerliche Initiative zu verkaufen, soll diesem Trend entgegenwirken. Allerdings lässt sich der Widerspruch zwischen den Schwurbler*innen tief im Hasenbau und „besorgten Bürger*innen“ zunächst schwer versöhnen.
„Querdenken“ firmiert zwischen dem Selbstbild der friedlichen Revolution 1989 und der „Wahnvorstellung“ vieler ihrer Anhänger*innen, die sich als verfolgte und unterdrückte Widerstandsgruppen wahrnehmen, die sich gegen ein diffuses omnipräsentes Feindbild zur Wehr setzen müssten.
Aufgabe von Antifa muss es sein, diesen Widerspruch stets erneut aufzudecken und zu vermitteln, denn hinter der harmlosen demokratischen Fassade stecken klassisch antisemitische Vernichtungsfantasien, die mal offen, mal abstrakt zu Tage treten. Es reicht nicht aus, „Querdenken“ nur im Kontext von Beteiligung von Rechten zu kritisieren; vielmehr geht ihr faschistisches Potential bereits aus der Funktion des ideologischen Durchlauferhitzers hervor. Im Folgenden sollen die Grundstrukturen des Antisemitismus bei „Querdenken“ deshalb kurz nachvollzogen werden.

Mobilisierbare Deutsche und Antisemitismus

Eklat MS hat eine sehr gute Broschüre zur Struktur und Wirkungsweise der Corona-Proteste veröffentlicht, die wir euch wärmstens empfehlen möchten.
Darin zeichnen sie nach, wie die verschwörungsideologische Mobilisierung funktioniert.

„Das bürgerliche Subjekt, die Krise antizipierend – auf welche die wertvermittelte Gesellschaft nicht nur immer wieder drängt, sondern auch aufbaut – sucht in der Formierung zum mobilisierten Kollektiv eine Scheinermächtigung, die nur in der Bewegung der Mobilisierung Bestand hat.“

Vermittelt wird diese Mobilisierung meist über die bekannten Verschwörungserzählungen, die nicht nur die Komplexität der Krise mindern sollen, sondern ebenfalls die Idee verkörpern, die kapitalistisch vermittelte und apersonale Herrschaft sei lediglich eine verkleidete personale Herrschaft gieriger Eliten.

Statt die Probleme in der Komplexität allgemeiner Abhängigkeit und der universellen Wertvermittlung unserer Gesellschaft zu suchen, wird personifiziert. Das konstuierte Feindbild wird dadurch angreifbar und erkennbar gemacht. Gleichzeitig beschwört man dadurch ein stichfestes Wir-Gefühl von den Erleuchteten und den „Schlafschafen“. Um der Mobilisierung als Selbstzweck zu genügen, braucht es ein Feindbild, das überall lauern kann. Medien, Politiker*innen, Antifa, „Großkapital“ und Pharmaindustrie hätten sich also gegen die an sich gute und friedfertige „Menscheitsfamilie“ verschworen. „Menschheitsfamilie“ ist ein Wort „welches vom Schweizer Verschwörungsideologen Daniele Ganser stammt. Demnach seien 99% der Menschen gut bzw. aufrichtig, während es aber ein globales 1% gebe, dass die „Bösen“ meint. Diese „1%“ sind wahlweise Satanisten, Jüdinnen und Juden oder schlicht „Die da Oben“. Dieser Blick auf die Welt war und ist seit jeher anschlussfähig für antisemitische und demokratiefeindliche Positionen.“

Und so verwundert es nicht, dass die meisten „Corona-Rebell*innen“ davon überzeugt sind, dass die politische Sphäre lediglich Spielball von Geheimbünden sei, wie unter anderem diese Studie zur politischen Soziologie der Corona-Proteste nahelegt.

In verkürzter Kritik bürgerlicher, d.h. kapitalistischer Vergesellschaftung und Verschwörungsideen überhaupt, ist Antisemitismus stets angelegt. Er ist strukturell deckungsgleich mit den vorgetragenen Positionen von Personfizierung abstrakter Herrschaft und den Projektionen diffusen Unbehagens, nicht eingelösten Versprechen bürgerlicher Freiheit und Individualität und der Vernichtungswut des deutschen Mobs.

„Und schnell ist klar, dass der Sprung von „die gesteuerten Mainstreammedien“ und die „Eliten“ zu „Lügenpresse“ und „Weltjudentum“ wirklich nicht mehr weit ist. Sie sind strukturell das Gleiche. Deswegen fing die rechtsextreme Szene sehr schnell an, die brandneue Corona-Bewegung zu unterwandern [bzw. sich an ihr zu beteiligen; Anm. d. Red.]. Von Anfang an waren sie in den Gründungsteams, haben die Mythen mit gestreut und multipliziert, sich eng verflochten, mitdemonstriert.“

Autoritärer Charakter in der Verschwörungsbewegung

Es wurde früh schon deutlich, dass die Corona-Proteste sowohl mit der s.g. Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, aber auch mit der Anschlussfähigkeit von Verschwörungserzählungen in der rechten Szene viel Zuspruch erlangen würden. Das Problem geht aber tiefer. So geht die Gefahr von „Querdenken“ und Co. nicht bloß von einzelnen rechten Akteur*innen auf den Demos und Kundgebungen aus, sondern vor allem von der breiten Praxis in der Bewegung, jene Akteur*innen in den eigenen Reihen zu akzeptieren und ihnen eine Bühne zu bieten. Auch die grundsätzliche Ablehnung von Wissenschaftlichkeit, Fakten und komplexen Zusammenhängen öffnet rechter Agitation Tür und Tor. Wer gestern noch von „denen da Oben“ geschwafelt hat, vertritt heute die Idee, dass „das Weltjudentum“ eine „neue Weltordnung“ zum Nachteil der braven Deutschen plant.

„Es muss fast so passieren: Wenn man einmal akzeptiert, dass „die Medien“ alle lügen und eine große Weltverschwörung möglich ist und sich in die geschlossene, „alternative“ Filterblase verabschiedet, wo man täglich neu angelogen und radikalisiert wird, wenn man sich mit Rechtsextremist:innen, Reichsbürger:innen und Antisemit:innen solidarisiert und diese verteidigt, ist der Sprung dahin nicht schwer.“

Und so wandelt sich schnell der Charakter der angeblichen Freiheitsbewegung zu der Vorstellung, man müsse sich nun endlich gegen die unterdrückerischen Cliquen wehren. Aus „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ wird schnell der Aufruf, die konstruierten Feindbilder zu verfolgen, zu isolieren und unschädlich zu machen. Das bekommen vor Allem die auf Corona-Protesten anwesenden Journalist*innen regelmäßig bei gewaltsamen Übergriffen und Anfeindungen deutlich zu spüren. Nichts anderes steckt hinter Plakaten auf denen Drosten und Co. als verurteilte Straftäter*innen dargestellt werden oder der Selbstinszenierung als Sophie Scholl. Auf einmal ist jedes Mittel legitim. Wenn man sich selbst gleichsetzt mit Juden*Jüdinnen, die zum Zwecke der totalen Vernichtung verfolgt wurden, ist schließlich jede Form der Gewalt gerechtfertigte Gegenwehr.

Wie geht es weiter?

„Querdenken“ erschöpft sich nicht durch Lockerungen von Corona-Maßnahmen. Zwar lässt sich vermuten, dass das große Mobilisierungspotential abnehmen wird, wenn die pandemische Lage mehr Freiheiten zulässt, jedoch ist der Verschwörungsbewegung damit längst nicht der ideologische Nährboden genommen.

Entgegen der grassierenden optimistischen Haltung, „Querdenken“ sei am Ende, sind wir skeptisch. Es zeigt sich, dass die autoritären Charaktere von „Querdenken“ und Co. mit ihrem Antisemitismus ein Phänomen des Systems sind, in dem wir leben. Eben dieser Antisemitismus war schon vor der Krise vorhanden. Durch die Pandemie wurde er lediglich erneut mobilisiert. Das kann jederzeit wieder geschehen. Solange die bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftung existiert, wird es auch Antisemitismus geben und damit eben die Verschwörungserzählungen, die die Deutschen so leicht auf die Straße bringen. Der deutsche Mob erzürnt sich an allem, was er sich nicht in einem Satz erklären kann. Ob Black Lifes Matter und Klimaaktivismus, Benzinpreise oder Mietendeckel – sobald das deutsche Bürger*innentum die ersehnte Volksgemeinschaft in Gefahr sieht, entflammt in ihm die Leidenschaft, sich für Hetze und Vernichtung zusammenzuschließen. Die Verschränkung bürgerlichen Scheins und faschisiertem Inhalt ist kein Widerspruch. Vielmehr heben Straßenbewegungen wie „Querdenken“, Pegida und co. diese konstruierte Grenze auf und beweisen damit, dass bürgerliche und autoritäre Ideologie im Kern ein und dasselbe sind.

„Die »Querdenkenden« werden möglicherweise schon bei der nächsten Gelegenheit zeigen, dass sie nach wie vor in der Lage sind, eine Menge Menschen auf die Straße zu bringen. Und diese Gelegenheit kann von einem Krieg mit Nato-Beteiligung bis hin zu irgendeinem als Skandal wahrgenommenen lokalen Ereignis, wie der Einschläferung eines bissigen Hundes praktisch alles sein.“